Mittwoch, 27. Juli 2016

MEHRSPRACHIGKEIT


Mitten in den Sommerferien schlagen wir euch eine kurze Lektüre vor, damit ihr eure Deutschkenntnisse  am Strand, im Gebirge oder warum denn nicht, auch in unserer Stadt, auffrischen könnt.

Ein wirklich multikulturelles Europa braucht Mehrsprachigkeit

Im August 1944 betrat meine Großmutter zum ersten Mal englischen Boden. Sie war kein typischer Flüchtling, denn sie stammte aus einer wohlhabenden Familie griechischer Seidenhändler in Kairo. Sie war Berufspianistin und sprach fließend Griechisch, Französisch und Arabisch. Dennoch wurde sie im England der Nachkriegszeit nicht mit offenen Armen empfangen.
Bereits nach wenigen Wochen stand die Polizei vor ihrer Tür, weil ein Nachbar gemeldet hatte, dass ein Ausländer in der Straße wohnt. Und wenn sie versuchte, ihre Muttersprache zu sprechen oder für ihre beiden kleinen Kinder Gerichte aus ihrer Heimat zu kochen, schlug ihr Feindseligkeit entgegen. Nachdem sie nach einem Nervenzusammenbruchwieder nach Ägypten zurückgekehrt war und die Suez-Krise sie dann wieder zur Rückkehr nach England zwang, begann sie, ihr neues Leben anzunehmen.
Meine Großmutter wurde schließlich voller Stolz britische Staatsbürgerin, aber ich nehme an, dass der Übergang einfacher gewesen wäre, wenn sie das Gefühl gehabt hätte, dass sie die Verbindung zu ihrer Heimat nicht hätte aufgeben müssen. Aber im vor-multikulturellen Großbritannien der 1950er Jahre war man entweder integriert oder deutlich außen vor.
Die Sprache des Gastlandes darf die Muttersprache nicht verdrängen, sondern muss neben ihr bestehen.
Wir schreiben das Jahr 2015, und Europa ist mit einer neuen Krise konfrontiert, in der erneut die Sprache im Mittelpunkt steht. Während immer mehr Züge ankommen – voll mit Menschen, die vor dem Krieg im Nahen Osten fliehen –, stellt sich eine dringendere Frage: Wie können wir all diese Menschen in unsere Gesellschaften integrieren?
Wir wissen, dass der Sprache hierbei eine Schlüsselrolle zukommt. Wir wissen auch, dass Flüchtlinge die Sprache ihres Gastlandes lernen müssen, um Arbeit zu finden, eine Schule zu besuchen und damit eine Chance auf ein normales Leben zu haben. Aber das ist schwieriger als es aussieht, zumal nur begrenzte Mittel und kaum Unterstützung zur Verfügung stehen.
Da viele Flüchtlinge bereits seit längerem nicht mehr gearbeitet haben, ist es für sie häufig wichtiger, Arbeit zu finden, als Sprachkurse zu besuchen. Von denjenigen, die überhaupt an Sprachkursen teilnehmen, verfügen viele aufgrund von Problemen mit dem Bildungswesen in ihrer Heimat nicht über die notwendigen Lernfähigkeiten, um sie optimal zu nutzen.
Weibliche Flüchtlinge zeigen immer wieder schlechtere Leistungen bei der Sprachkompetenz als Männer, und das nicht nur, weil ihnen in vielen Fällen Bildung verwehrt wird und sie als Analphabeten im Gastland eintreffen. In Flüchtlingsfamilien ist häufig die Mutter das Bindeglied zur Herkunftskultur und verantwortlich für den Erhalt kultureller Werte und die Kommunikation in der Muttersprache.
Paradoxerweise wird das Erlernen der Sprache des Nachbarn auch im heutigen pluralistischen und multikulturellen Europa immer noch als eine Bedrohung für die eigene Sprache angesehen. Und wenn in der Schule die Muttersprache nicht mehr verwendet werden darf, wird alles nur noch schlimmer.
Die Sprache des Gastlandes darf die Muttersprache nicht verdrängen, sondern muss neben ihr bestehen. Kinder sollten beide Sprachen gleichermaßen fließend sprechen können und gleichzeitig beide Identitäten entwickeln und beide Kulturen annehmen. Ein wirklich integratives multikulturelles Europa kann nur durch Mehrsprachigkeit erreicht werden – daran führt kein Weg vorbei. Und diese Mehrsprachigkeit muss in der Schule beginnen.
Es darf nie das Gefühl entstehen, dass die Muttersprache unerwünscht oder minderwertig ist. Eine einfache Geste, wie z. B. Schülern erlauben, Wörter in ihrer eigenen Sprache an die Tafel zu schreiben, kann den Flüchtlingen bereits signalisieren, dass ihre Sprache als gleichberechtigt angesehen wird. Wenn Sie versuchen, diese Wörter auszusprechen oder gar versuchen, sie zu erlernen, wird dieses Gefühl noch verstärkt. Die Schule wird so mehr zu einem Ort für Zusammenarbeit werden, an dem es nicht nur um bloße Wissensvermittlung geht.  Wenn die Schüler im Unterricht stärker ihre Muttersprache nutzen dürfen, haben sie auch weniger Probleme mit dem Erlernen der zweiten Sprache. Wenn sie dann auch noch feststellen, dass Sie als Lehrer beim Lernen ihrer Muttersprache die gleichen Schwierigkeiten haben wie die Schüler mit Ihrer Sprache, dann tragen Sie dazu bei, eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts zu schaffen, der so häufig fehlt.
Alex Rawlings(link is external) ist Sprachlehrer, Blogger und Polyglott. Er lebt in Valencia, Spanien. Derzeit unterrichtet er vier verschiedene Sprachen: Englisch, Deutsch, Russisch und Griechisch. Außerdem bietet er Beratung und Coaching-Dienstleistungen für Menschen, die die Fähigkeit entwickeln wollen, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen. 2012 wurde er in Großbritannien zum Studenten, der die meisten Sprachen spricht, ernannt.